Warum Bewegung eine der wirksamsten Pillen ist
Bewegung ist eines der wirksamsten Medikamente, sagt Sportmediziner Arno Schmidt-Trucksäss. Verschrieben wird es aber noch selten. Das soll sich mit Sport-Therapien ändern, die auf den Einzelnen zugeschnitten sind.
Herr Schmidt-Trucksäss, wie halten Sie sich fit?
Ich integriere meine körperliche Aktivität in den Alltag und fahre jeden Tag mit dem Velo. Auf dem Nachhause-Weg lege ich rund 100 Höhenmeter zurück, was sich natürlich positiv auf die Fitness auswirkt. Zusätzlich gehe ich am Wochenende joggen und spiele Tennis, meistens mit meinem Sohn.
Mit diesem Pensum liegen Sie wahrscheinlich über dem Schweizer Durchschnitt.
Nicht unbedingt. Die Schweiz gehört zu jenen europäischen Ländern, in denen sich die Menschen am meisten bewegen. Laut einer neuen Befragung haben 76 Prozent der Schweizer Bevölkerung ein ausreichendes Mass an Bewegung – also wöchentlich 150 Minuten bei mittlerer beziehungsweise 75 Minuten bei intensiver Aktivität. Allerdings basieren die Ergebnisse auf Fragebögen, in denen man sich meistens positiver einschätzt. Objektiver wären sicher Messungen mit Bewegungssensoren gewesen.
Bewegung ist gesund, das wissen wohl alle. Wird zwangsläufig krank, wer sich nicht oder zu wenig bewegt?
Man wird nicht zwangsläufig krank, nimmt sich aber das gesundheitsfördernde Potenzial. Wer rastet, der rostet, lautet das bekannte Sprichwort, und es stimmt tatsächlich. Die Körper-Funktionen, die vor chronischen Krankheiten schützen und die Sterblichkeit senken, werden bei Bewegungsmangel eingeschränkt.
Was genau bewirkt Bewegung im Körper?
Die Wirkmechanismen sind vielfältig, und viele sind noch nicht erforscht. Klar ist jedoch, dass bei körperlicher Aktivität der Sauerstoffbedarf in der Muskulatur steigt. Die Gefässe schütten dabei vermehrt Stickstoffmonoxid aus, ein wichtiger Botenstoff, der Entzündungen unterdrückt und Zellen schützt. Dies kann verbeugend wirken gegen Arteriosklerose, Diabetes oder Krebs.
Wie Bewegung als Medikament eingesetzt werden kann, ist eines Ihrer Forschungsgebiete. Was fasziniert Sie daran?
Absolut faszinierend finde ich, dass wir, ausser der Bewegung, kein einziges Medikament mit so vielen positiven Wirkungen kennen. Selbst „Polypillen“, die künftig gleich gegen mehrere Risikofaktoren helfen sollen, schaffen das bei weitem nicht. Die Hintergründe hierfür zu verstehen und daraus abzuleiten, welche Art von Bewegung bei welcher Krankheit eingesetzt werden kann, daran arbeiten wir mit grossem Interesse.
Gibt es hierfür Empfehlungen für bestimmte Erkrankungen?
Wir wissen beispielsweise, dass eine Kombination aus Ausdauer- und Krafttraining bei Diabetes Typ 2 wirksam ist. Die Muskelzellen werden dadurch wieder empfindsamer für Insulin. Dieses kann so seine Funktion besser erfüllen, nämlich den Blutzuckerspiegel regulieren. Und dies funktioniert durch gezieltes Training sogar unabhängig vom Insulin.
Werden auf der Grundlage solcher Erkenntnisse bereits Patienten behandelt?
Ja, das passiert, aber die Möglichkeiten werden noch nicht ausgeschöpft. Immerhin jedoch sind wir heute ein paar Schritte weiter. Bei bestimmten Tumorerkrankungen etwa wird moderates Ausdauertraining während der Chemotherapie inzwischen vermehrt angewendet. Sie ist so wirksamer und wird besser vertragen. Auch Herzinfarkt-Patienten werden heute nicht mehr ins Bett gepackt, um sie möglichst lange zu schonen. Ausdauertraining wird so schnell es geht als Therapie genutzt, auch wenn die Lücke zwischen Akutphase und Rehabilitation noch immer zu gross ist.
Woran liegt das?
Nur wenige Ärzte verfügen über sportmedizinisches Wissen – es ist im Medizinstudium bislang kein Pflichtfach, was wir an der Universität Basel ändern wollen. Zudem mangelt es an der Zusammenarbeit mit Bewegungs- und Physiotherapeuten. Ein entsprechendes Netzwerk im Einzugsbereich einer Arztpraxis oder Klinik ist aber wichtig, um die entsprechenden Fachleute empfehlen zu können. Einem Patienten zu sagen, schauen sie im Telefonbuch oder im Internet nach, reicht nicht.
„Sie sollten sich mehr bewegen“ – das hören Patienten in der Arztpraxis oft. Wie wirksam sind solche Ermahnungen?
Sie sind nicht wirksam genug, und wichtige Fragen bleiben offen. Beispielsweise, ob man mit Bluthochdruck jetzt ins Krafttraining darf oder die Werte dann noch mehr in die Höhe schiessen. Solche Unsicherheiten sollten besprochen und eingeordnet werden. Ich halte im Übrigen auch pauschale Empfehlungen wie „Jeder Schritt zählt“ für unzureichend.
Warum?
Sie mögen grundsätzlich richtig sein, sind für den Einzelnen aber nicht konkret genug. Ein Diabetologe würde zu seinem Patienten ja auch nicht sagen: Jede Einheit Insulin zählt. Es wird eine bestimmte Dosierung, Häufigkeit und Dauer festgelegt. Und dies ist wichtig, wenn wir Bewegung als Medizin verordnen wollen, nur so können wird deren Wirkung voll ausschöpfen.
Was würden Sie dem Bluthochdruck-Patienten konkret empfehlen?
Die Basis ist immer ein Gesundheits-Check, insbesondere dann, wenn bereits eine Erkrankung vorliegt. Dann leiten wir zu einem individuellen Training an: Zum Beispiel mit zehn Minuten Ausdauersport auf dem Fahrrad-Ergometer beginnen, um sich im Kopf umzustellen, Motivation zu gewinnen, den Bewegungsapparat zu adaptieren. Danach lässt sich die Intensität dosiert steigern und im Alltag variieren, um neue Trainingsanreize zu setzen.
Benötigt dafür jeder Patient einen Coach?
Ein Bewegungsexperte kann als Begleitung sinnvoll sein, Sportwissenschaftler etwa, wie wir sie an unserem Departement ausbilden. Diese können einschätzen, was der Einzelne braucht und ihm guttut. Wichtig dabei ist, den Körper nicht zu überlasten. Es gilt zu vermeiden, dass jemand Beschwerden wie Knieschmerzen bekommt, deswegen das Training unterbricht und vielleicht nicht wieder damit anfängt. Schliesslich wollen wir auch dazu motivieren, dabei zu bleiben.